Was wir dank Tante Marie lernen können
Es gibt Worte, die wir oft nicht mehr hören wollen und schon gar nicht im Zusammenhang mit unserem Verband, unserem Verein, unserer Gemeinde: Worte wie Missbrauch, sexualisierte Gewalt, Macht, Prävention… Unsere Reaktion darauf lautet meist: Bei uns doch nicht!
Wenn wir den unangenehmen Themen jedoch offen begegnen und reflektieren, finden wir schnell Erfahrungen, die so oder ähnlich auch in unserer Pfarrei oder unserem Verein vorkommen können. Situationen, bei denen wir uns denken:
- «Wie die sich benimmt, erinnert sie mich ganz an Tante Marie, die uns Kinder immer mit engen Umarmungen und nassen Küssen begrüsste. Vor ihr hätte ich mich am liebsten versteckt!»
- «Warum will der ältere Herr partout nicht mit mir spazieren gehen? Ich meine es doch nur gut mit ihm!»
- «Der Umgang des Sakristans mit den Ministrant:innen scheint mir doch etwas grob – müsste ich nicht etwas sagen?»
- «Am Mittagstisch weinte ein Kind, wollte aber nicht sagen weshalb. Gab es Streit zu Hause, hat es etwas Belastendes erlebt? Schon länger ist mir aufgefallen, dass es erschrickt, wenn ein bestimmter Mann den Raum betritt.»
Bei solchen Beobachtungen auch an möglichen Missbrauch und sexualisierte Gewalt zu denken, fällt uns nicht leicht. Vielleicht ist es ja nur ein vager Verdacht, ein ungutes Gefühl, das wir lieber verdrängen. Bei uns doch nicht!
Von Macht und Hilflosigkeit
In den letzten Jahren in- und ausserhalb der Kirche mussten wir schmerzlich lernen, dass «solche Dinge» eben doch auch dort geschehen, wo wir sie für ausgeschlossen halten. Aber wie damit umgehen?
Wo Menschen auf andere Menschen angewiesen sind, ist immer auch Macht im Spiel. Sei es bei der Betreuung von Betagten, Geflüchteten und Kindern, in der Familie oder im Kinderhütedienst. Überall dort, wo Menschen abhängig sind von anderen, nicht nur Untergebene von Vorgesetzen. Macht aber muss verantwortungsvoll gelebt werden, sonst ist der Schritt zu einem seelischen oder körperlichen Missbrauch plötzlich klein. Wie das Beispiel von Tante Marie zeigt, geht es auch oft um die Frage: wie viel Nähe ist erwünscht, wie viel Distanz muss sein, damit uns allen wohl ist?
Der Gedanke an einen möglichen Missbrauch, selbst auch nur vager Verdacht, löst bei uns zuerst wohl vor allem Hilflosigkeit aus. Was soll ich tun?
Hinschauen, handeln und vorbeugen
Ein erster und entscheidender Schritt ist, sich bewusst zu machen und zuzulassen, dass ich etwas Fragwürdiges gesehen oder erlebt habe. Hilflosigkeit und Unsicherheit sind dabei nichts Ungewöhnliches oder Schlechtes.
Darum gilt es, sich Hilfe zu holen – von Fachleuten oder Menschen, denen ich vertraue. Denn in solchen Situationen ist behutsames Vorgehen gefragt. Überstürztes Handeln ist oft kontraproduktiv – es sei denn direktes und sofortiges Eingreifen ist nötig, beispielsweise bei offensichtlicher Gewalt.
Wo Hilfe zu finden ist, steht in den Merkblättern Prävention von Grenzverletzungen, die der SKF für seine Mitglieder ausgearbeitet hat. Weitere Tipps gibt es im Internet, bei medizinischen Fachpersonen oder bei der Sozialberatung. Gemeinsam mit Fachleuten kann das weitere Vorgehen besprochen werden.
Selbst wenn uns das noch weniger behagt: jede:rkann sich fragen, wie meistere ich selbst heikle Situationen? Wie gehe ich mit Nähe und Distanz um? Sage ich einfach pauschal, bei mir sicher nicht? Auch hier gilt: ich hole mir Hilfe, wenn mir plötzlich unwohl ist – zu meinem eigenen Schutz und dem meiner Mitmenschen.
Wir alle sind gefordert: wenn wir alle aufmerksam, sensibel, mutig und selbstkritisch bleiben, dann hat der Missbrauch bei uns keine Chance. Dann werden wir leichter sagen können: Nein, bei uns nicht!
Iva Boutellier
Iva Boutellier ist SKF-Vorstandsmitglied und Theologin. Das erste Mal mit dem Thema konfrontiert wurde sie bei der Aufarbeitung der Zustände im ehemaligen Kinderheim Rathausen – dort wandelte sich ihr anfänglicher Unwille, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Missbrauchsskandal in der (deutschen) Kirche seit 2010 rüttelte sie nochmals auf. Als der SKF das Thema aufgriff, war sie sofort dabei. Machtmissbrauch als Wurzel des ganzen Problems beschäftigt sie seitdem sehr stark und im gleichen Atemzug der Schutz aller, die sich nicht wehren können. Neuerdings bewegt sie auch ein Missbrauchin ihrem Umfeld. Die Reaktionen der SKF-Frauen am Workshop der Herbstkonferenz 2021 zeigten ihr, dass es den Willen zum wirklich Hinschauen und Wahrnehmen braucht. Zum anderen aber herrscht grosse Hilflosigkeit, wenn es konkret wird. Deshalb sind Hilfestellungen in Prävention und Sensibilisierung so wichtig.
Prävention von Übergriffen in der Vereinsarbeit
Grenzverletzungen können überall vorkommen, genau deshalb ist es wichtig, auch Freiwillige zu sensibilisieren. Der SKF bietet Ortsvereinen und Kantonalverbänden umfassende Informationen und Merkblätter zur Prävention von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt.
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